Hinter den Kulissen eines Großfeuers
STILLE IN EINER KRISTALLKLAREN NACHT IM WINTER. Die Sterne flackern am Himmel. Das Thermometer zeigt 3°C. Aderstedt liegt am 1. März 2023 um 1:49 Uhr im Tiefschlaf. Plötzlich hallt ein schrilles Signal aus geöffneten Fenstern durchs Dorf.
Das muss man wollen
Bei den Einsatzkräften der Ortsfeuerwehr läuft ein Alarm auf ihren Pipern. Einige springen blitzartig aus dem Bett, andere reiben sich verschlafen die Augen und manche Ehefrau gibt ihrem Liebsten erstmal einen kräftigen Stups, um ihn wach zu bekommen. Feuerwehrleute sind eben auch nur Menschen.
Ab diesem Punkt haben sie nur wenige Minuten Zeit für raus aus dem Schlafanzug, irgendetwas schnell anziehen, rein in die Schuhe, Autoschlüssel greifen, zur Wache fahren, wieder raus aus den Sachen, rein in den Brandanzug, Helm greifen und schnell aufsitzen.
Toilette? Könnte knapp werden. Muntermacher Kaffee? Fehlanzeige. Multitasking ist Pflicht, denn parallel müssen sie noch die Basisdaten aus der Alarm-App erfassen und Rückschlüsse ziehen.
Unter gewöhnlichen Bedingungen sollte die erste taktische Einheit innerhalb von 12 Minuten am Einsatzort eintreffen. Die Führungskräfte treffen in dieser Zeit schon die ersten Entscheidungen.
Für die meisten wäre das wahrscheinlich selbst im ausgeschlafenen Zustand und zur besten Tageszeit eine echte Herausforderung. Wer sich zu diesem Zeitpunkt in die Wache stellt, um in die Gesichter der Mannschaft beim Ankommen mitten in der Nacht zu sehen, wird die Bandbreite menschlicher Physiognomie so schnell nicht vergessen.
Vor allem jedoch schieben sich einem Außenstehenden Fragen nach vorn: Warum tun die sich das an? Wie wird man so?
Schlimmer geht immer
Der Alarm schaukelt sich hoch. Am Einsatzort in der Güstener Straße treffen die Einsatzkräfte ein. War die erste Alarmierung noch ein Kleinbrand, kommt schnell die Hochstufung zum Mittelbrand. Wenig später erhöht die Leitstelle auf Großbrand. Alle Ortsfeuerwehren der Stadt Bernburg und die Wehren in Güsten bzw. Nienburg werden nachalarmiert. Jetzt wird´s voll.
Aber jeder weiß auch, das dauert dieses Mal und es ist kalt. Die Kälte dringt langsam in die Handschuhe, und auslaufendes Wasser beginnt auf dem Asphalt zu gefrieren.
Mitten in der Nacht brauchen die Einsatzkräfte warme Getränke und Versorgung. Voraussichtlich läuft der Einsatz bis in den Vormittag. Da reichen ein belegtes Brötchen und Selters für die kräftezehrenden Bedingungen bei 3°C nicht aus. Also ran ans Telefon und alles aus dem Stand organisieren.
Nichts für Egomanen und Alpha-Männchen
Das Sagen hat vor Ort, aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung immer der Ranghöchste. Der zuerst eingetroffene Wehrleiter übergibt die Einsatzleitung an ihn, sobald er eintrifft. Hierarchisch folgen die Gruppen- und Truppführer. Nach der Lageerkundung greifen die trainierten Abläufe.
Die Straße ist bereits gesperrt. Diverse Feuerwehrfahrzeuge einschließlich Drehleitern sind auf Position. Überall liegen Schläuche und stehen Standrohre zur Wasserversorgung. Am Fluss saugen mobile Tragkraftspritzen. Der Katastrophenschutz baut sein Zelt auf und über 80 Einsatzkräfte kämpfen gegen den Brand. Alle wissen, was sie zu tun haben und arbeiten Hand in Hand. Egomanen sind hier völlig fehl am Platz.
Organisationsfetischisten hätten ihre helle Freude. Innerhalb kürzester Zeit läuft die Brandbekämpfung wie ein Uhrwerk. Im Hintergrund füllt sich der WhatsApp-Chat der Aderstedter mit Rückmeldungen der Verfügbarkeit. Manche haben es nicht gleich geschafft, sind in der Nachtschicht und rücken nach. Die Versorgung muss 200 Brötchen ranschaffen, aufbacken, schmieren, belegen und danach ca. 100 Portionen Nudeln mit Tomatensauce kochen. Kein Wunder, dass sie zur Unterstützung alle Reserven zusammentrommeln.
Später klingelt die Einsatzleitung noch einen Baggerführer aus dem Bett. Zufällig wird der ehemalige Aderstedter Hof abgerissen. Der Bagger von dort soll die rauchenden Trümmer am Brandort auseinanderziehen.
Und wieder tauchen Fragen auf. Woher können die das? Wieso arbeiten Einsatzkräfte aus verschiedenen Orten binnen kürzester Zeit hochmotiviert als großes Team zusammen? Haben die Führungskräfte alle Prozesssteuerung studiert? Mitnichten!
Mehr als nur ein Hobby
Feuerwehrleute sind hochqualifiziert. Bis auf die 8 hauptamtlichen Kräfte der Bernburger Feuerwehr, verdanken alle Einsatzkräfte ihre Qualifikation unermüdlicher Weiterbildung in der Freizeit. Jeder hat diverse Kurse für spezielle Ausbildungsschwerpunkte absolviert, die mit theoretischen und praktischen Prüfungen abgeschlossen werden. Einfach mal am Wochenende berieseln lassen, geht da nicht – und alles im Ehrenamt!
Die meisten stammen aus handwerklichen Berufen. Früher war Feuerwehr eine typische Männerdomäne. Ob Maschinist, technische Hilfeleistung mit schwerem Gerät oder Angriffstrupp unter Atemschutz, heute spielt das Geschlecht keine Rolle mehr.
Der reibungslose Ablauf während eines Einsatzes basiert auf einer ungemein ausgeklügelten Einsatzlehre und Einsatztaktik, die für alle gilt. Sie ist bis ins kleinste Detail auf Effizienz angelegt und extrem durchdacht.
Selbst so etwas Profanes wie die Sitzordnung im Löschfahrzeug, ist funktional und hierarchisch festgelegt. So sitzt rechts neben dem Fahrer der Gruppenführer und diagonal hinter ihm die Truppführer. Warum? Damit sie sich während der ersten Befehle besser verstehen.
Ehrenamt aus Leidenschaft
Mitglied einer freiwilligen Feuerwehr zu sein, ist mehr als nur ein Hobby. Es ist eine Einstellung. Während man gesellschaftlich eine zunehmende Ich-Bezogenheit vieler nicht mehr von der Hand weisen kann, ist ein derartiger Großeinsatz das genaue Gegenteil.
„Retten, löschen, bergen, schützen.“ Klingt wie Worthülse aus dem Marketing. Ist es aber nicht. Der Slogan der Feuerwehr ist sichtbar mit Leben erfüllt. Auf der Sinnstiftung dieser vier Worte gründet die Identifikation der Einsatzkräfte mit dem, was sie tun. Daraus schöpfen sie die Kraft und Motivation, mitten in der Nacht auszurücken, und auch unter widrigsten Bedingungen ihr Ehrenamt auszuüben.
Das macht etwas mit einem. Die innere Einstellung zu bestimmten Dingen verändert sich. Werte wie Gemeinschaft, füreinander Einstehen, Helfen oder gesellschaftlicher Zusammenhalt erhalten eine Bedeutung.
Menschen völlig unterschiedlicher Konfessionen und politischer Ansichten lösen gemeinsam ein Problem. Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Herkunft, sozialer Stand – uninteressant. Es gibt nicht viele Bereiche in der Gesellschaft, die das noch von sich behaupten können.
Gewöhnungsbedürftige Feuerwehr-Prosa
Für Debütanten ist allerdings die Befehlssprache bei der Feuerwehr zunächst befremdlich. Sie klingt eher nach Armee. Es gibt dafür sogar ein optisches Gleichnis. Z.B. muss die Besatzung (so genannte Gruppe) eines Löschfahrzeuges nach der Ankunft am Einsatzort „Absitzen“ und hinter dem Fahrzeug „Antreten“.
Klingt putzig, ist jedoch bitterer Ernst unter Einsatzbedingungen. Zugegeben, der Sinn dahinter erschließt sich nicht gleich. Doch nach den ersten Diensten und Übungen fällt der sprichwörtliche Groschen sofort. Ohne präzise, kurze und für alle verständliche Kommunikation würde vor Ort Chaos herrschen.
Rhetorische Reduktion bei der Nachkontrolle
Am späten Nachmittag fährt eine Gruppe der Aderstedter Wehr mit dem Löschfahrzeug nochmals zum Einsatzort. Nachdem der Wehrleiter keine versteckten Glutnester mehr entdecken kann, kommt sein Fazit in typischer Nüchternheit: „Is´ aus.“ Kürzer geht´s nicht.